Bundesliga - Abstiegskampf: "Wer hat Spaß am Druck"?
Noch nie war der Abstiegskampf so brutal wie in diesem Jahr. Zwischen dem HSV als Tabellen-14. (32 Punkte) und Schlusslicht Stuttgart (30) liegen nur zwei Punkte. Der Druck kann sogar gesundheitsschädlich sein, erklärt Peter Boltersdorf. Im Eurosport-Interview der Woche analysiert der erfahrene Motivationsberater den perfekten Spieler und Trainer für den Existenzkampf.

Wie gesundheitsgefährdend ist der Abstiegskampf?
Peter Boltersdorf: Für Trainer, Spieler oder andere Verantwortliche, die keinen Abstand von der Situation hinbekommen, kann es zu gesundheitlichen Schäden führen. Das kann eine Schwächung des Immunsystems mit sich bringen oder sogar depressive Phasen. Ich habe den Abstiegskampf mit dem FC Augsburg selbst erlebt. Das ist ein absoluter Ausnahmezustand. Es gibt Spieler und Verantwortliche, die nicht essen oder schlafen können. Bei uns ging es zum Glück gut aus.
Es heißt immer so schön, Angst ist ein schlechter Ratgeber, lähmt Kopf und Beine - gerade im Abstiegskampf eine verheerende Begleiterscheinung. Wie kann den Spielern die Angst genommen werden?
Boltersdorf: Wenn die Angst sehr ausgeprägt ist, kann man nichts machen. Generell muss jeder Fall einzeln betrachtet und auch einzeln angegangen werden. Einfühlsame Einzelgespräche sind in dieser Drucksituation extrem wichtig. Manche Profis empfinden diese Lage sogar als existenziellen Druck. Dann muss man ihnen klar machen, dass es keine existenzielle Frage für ihr Leben ist. Das EINE Allheilmittel für alle Fälle gibt es nicht. Manchen hilft Yoga, manchen Meditieren, manchen die Unterstützung durch einen Mitspieler.
Auf welche Signale muss ein Trainer achten, um zu wissen, Spieler XY ist für diese Ausnahmesituation bereit?
Boltersdorf: Das ist sehr schwer. 30, 40 Prozent der Profis versuchen generell, ihre Ängste und Sorgen vor anderen zu verstecken. Wer Ängste zugibt, wird als schwach wahrgenommen. Wenn diese Ängste aber dann im Spiel ausbrechen, hat man keine Chance mehr. Trainer und Sportdirektor müssen ihre Spieler sehr gut kennen, sehr genau zuhören und die richtigen Schlüsse ziehen.
Und Hobby-Psychologen sein?
Boltersdorf: Ich mag den Begriff Psychologe in diesem Zusammenhang nicht. Der Trainer muss noch mehr Mensch sein als sonst und sich noch mehr auf die Empfindlichkeit seiner Spieler einstellen. Es bringt relativ wenig, in dieser Situation noch Technik oder Spielsituation zu trainieren. Der Mensch steht noch viel mehr im Blickpunkt als sonst.
Was ist der perfekte Spieler für den Abstiegskampf?
Boltersdorf: Spieler, die angstfrei sind und deswegen ihre Selbstkontrolle behalten. Der Trainer muss sich fragen: Wer hat Spaß am Druck? Es sind Spieler gefragt, die Spaß am Druck haben, die genau dann ihre stärksten Leistungen bringen, die Drucksituationen sogar brauchen. Im Abstiegskampf würde ich Profis, die mental stabil und cool sind, immer talentierteren vorziehen.
Auch die sechs Trainer gehen völlig unterschiedlich mit der brisanten Lage um. Der eine reduziert das Training, der andere geht mit der Mannschaft ins Kloster, der dritte schwört auf Lockerheit. Welcher der sechs ist für den Ausnahmezustand am besten geeignet?
Boltersdorf: Ich werde keine Namen nennen und kenne auch nicht alle gut genug, aber eins ist klar. Der Druck ist ohnehin da. Der Coach, der es schafft, den Druck rauszunehmen, ist im Vorteil. Die Trainer müssen cool und ruhig bleiben und dies den Profis auch vermitteln. Entscheidend ist nicht, wie sie in der Öffentlichkeit rüberkommen, sondern wie sie intern mit der Situation und den Spielern umgehen. Zuviel Aktionismus bringt nichts. Im Abstiegskampf können auch Konflikte innerhalb der Mannschaft ausbrechen. Daher ist es immer hilfreich, wenn bereits zu Saisonbeginn Teambuilding-Maßnahmen und Analysen durchgeführt werden.
Freiburg darf absteigen, auch für den Neuling Paderborn wäre eine Rückkehr in die 2. Liga kein Beinbruch, für den Bundesliga-Dino HSV, die Hertha als Hauptstadtklub oder den VfB, der in der kommenden Saison die Profiabteilung ausgliedern will, dagegen schon. Welche Rolle spielt dies?
Boltersdorf: Das darf man nicht unterschätzen, aber auch nicht überbewerten. Je geringer der Druck, desto leichter ist es, aber es gibt nicht die EINE Erfolgsformel. Es ist immer ein Zusammenspiel zwischen Trainer, Sportdirektor und der Qualität eines Kaders. Erfahrung im Abstiegskampf ist natürlich ein Vorteil. Das gilt für alle Beteiligten.
Felix Magath prophezeit, dass Paderborn und Hannover direkt absteigen. Was glauben Sie?
Boltersdorf: Ich habe eine Vermutung, möchte mich aber nicht öffentlich festlegen. Es ist eine reine Nervensache.
Peter Boltersdorf (62) hat beim FSV Mainz 05 unter Klopp als Motivationsberater gearbeitet und in dieser Zeit den Bundesliga-Aufstieg und das erste Jahr in der deutsche Eliteklasse miterlebt. Zudem war er bei Schalke 04, Hannover 96, Alemannia Aachen und beim FC Augsburg beschäftigt. Im Nicht-Fußballbereich fungierte er als Berater der Handball-Nationalmannschaft beim WM-Triumph 2007 und unterstützte Gewichtheber-Bundestrainer Frank Mantek beim Olympiasieg von Matthias Steiner 2008 in Peking. Boltersdorf ist Dozent an der Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes in Köln.
Von Sven Busch
15. Mai 2015 10:01
Eurosport
Den gesamten Artikel mit Bildern finden sie hier: Link